Bruce Gildens düstere Vision eines verlorenen New York
Straßenfotografie war schon immer ein Raubtierunternehmen. Traditionell begibt sich der unerschrockene Fotograf auf die Straße wie auf eine Safari, um mit einer Kamera, die unauffällig genug ist, um die örtliche Tierwelt nicht zu verärgern, Beute zu machen. (Die 35-mm-Leica, die 1925 auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt wurde, hat das Genre praktisch hervorgebracht, da sie damals neuartig tragbar, unauffällig und mit einem flüsterleisen Verschluss ausgestattet war.) Bruce Gilden jedoch hat sich einen Namen gemacht, indem er den Leuten ins Gesicht schaut. Wenn er sich auf die Straße begibt, hat er oft ein Blitzgerät an seiner Kamera befestigt, das er im Abstand von einer Armlänge von seinen Motiven auslöst, um sie im grellen Licht zu versteinern. Um die Safari-Metapher zu erweitern: Das ist so, als würde man aus seinem Jeep aussteigen und zu einem Löwen laufen, um eine Partie Amateur-Tierbändiger zu spielen. Bemerkenswerterweise hat er dies in den achtziger Jahren in New York getan. Gilden war ganz schön dreist.
Gildens neues Buch, „Lost and Found“ (Éditions Xavier Barral), ist im Grunde genommen eine Art altes Buch. In der Einleitung erzählt er, dass er, nachdem er aus seiner Wohnung in New York City ausgezogen war und in der vergleichsweise grüneren Gegend von Beacon gelandet war, auf eine persönliche Fundgrube gestoßen war. In seinem Archiv befanden sich mehr als zweitausend Filmrollen aus den siebziger und achtziger Jahren, die aus irgendeinem Grund durch die Maschen gerutscht waren. Im Sommer 2018 durchforstete Gilden diese vergessenen Quellen seiner Arbeit und kam mit einer Sammlung von fünfundsiebzig düsteren Straßenaufnahmen aus der chaotischen „Taxi Driver“-Ära in New York zurück. (Eine treffende Referenz, wie sich herausstellte, denn Gilden fuhr zu der Zeit, als er zumindest einige dieser Bilder machte, selbst Taxi.)
„Ich sage gerne, dass Straßenfotografie bedeutet, die Straße zu riechen und den Schmutz zu spüren“, schreibt Gilden in seiner Einführung, „und das ist es, was man in diesen Bildern fühlt. Man spürt den Schmutz, den Schweiß, die Schlampigkeit, die Spannung, man spürt … New York.“
Er lügt nicht. Die Lebendigkeit und das Elend der Stadt in den siebziger Jahren sind wie ein schmieriger Film über diese Bilder gelegt. Man hat fast das Gefühl, dass man mit dem Finger darüber streichen könnte, um einen Abdruck zu hinterlassen. Alle Archetypen treten zum Appell an: die kleinen Gauner, die hartgesottenen Mafiosi, die Jungfern in ihren Kitteln, die Armen und die Geschlagenen, die skrupellos Reichen.
Natürlich ist Straßenfotografie keine Volkszählung. Um gut zu sein, muss sie auf Momenten aufbauen – dem Ausbruch des Theatralischen, des Zufälligen oder des Unerklärlichen in den alltäglichen Alltag. Natürlich hat Gilden Momente zu bieten. Sehen Sie: ein Mann, der dabei ertappt wird, wie er einen anderen Mann an der Kehle packt, was einen erschrecken würde, wäre da nicht die unheimliche, unerklärliche Ruhe im Gesicht seines Opfers. Schauen Sie: ein verzweifelter Mann in einem Gedränge von Fußgängern, ein Mantel um den Kopf gewickelt wie ein Nonnenhabit. Sehen Sie: drei Männer mit Haaransatz, die in fast identischen Anzügen auf die Berge zugehen. Schauen Sie: drei Frauen – vielleicht, so könnte man sich vorstellen, die Ehefrauen der drei Männer von vorhin – mit lächerlichen Zuckerwattemänteln, die in Pelze gehüllt sind, eine schöner als die andere. Schauen Sie: ein Mann, der an einer Straßenecke stehen geblieben ist, wie ein Storch auf einem Bein, sein Fuß ist vorübergehend unbeschlagen, während er eine herunterhängende Socke hochzieht.
Wie Garry Winogrand, der vielleicht Gildens engster fotografischer Cousin ist, kann sein Blick manchmal einfach gemein sein. Eine grimassierende Frau mit zerknitterter Nase stürmt in den Rahmen; ein alternder Gigolo, ganz in Polyester, vergoldetem Schmuck und Protz, steht mit seiner finster dreinblickenden Frau am Arm da – solche Motive erwecken den Verdacht, dass sie die Aufmerksamkeit der Kamera vor allem deshalb verdient haben, um das Objekt ihres Spottes zu sein. Gildens spätere Arbeiten, unerbittliche Nahaufnahmen von Gesichtern, die von Armut gezeichnet sind, beleuchtet mit direktem, starkem Blitzlicht, scheinen diesen Verdacht zu erhärten. Obwohl sie vorgeblich eine Art von Ehrlichkeit mit allen Warzen zeigen, die uns süffisant mit der Welt, wie sie ist, konfrontieren soll (nennen Sie das vielleicht die Arbus-Schule der visuellen Aggression), fehlt den Bildern merklich die wettergegerbte Würde, die beispielsweise Katy Grannan ihren Motiven verleiht.
Auch mit diesen Ecken und Kanten glänzen Gildens Bilder als Paradebeispiele für einen fotografischen Modus, der so gut wie verschwunden ist. Die Straße, so scheint es, ruft die Fotografen nicht mehr wie früher. Aber warum? Jeder, der in New York lebt, weiß, dass es auf den Bürgersteigen und in den U-Bahnen an Dramatik nicht mangelt. Mit dem richtigen Auge könnte sicherlich wieder jemand die Art von Bildern machen, die Gilden in seinen Archiven ausgegraben hat, und dem Genre seinen eigenen, idiosynkratischen Dreh geben. Es scheint jedoch, dass die Motivation verloren gegangen ist. Vielleicht ist die Erklärung dafür einfach: Die Straßen mögen zwar immer noch ein Zirkus sein, aber wir betrachten sie nicht mehr als die größte Bühne, auf der wir herumstolzieren und uns die Zeit vertreiben. Stattdessen sind wir in unseren virtuellen Welten verschwunden, in Spiegelkabinetten, aus denen es immer schwieriger wird zu entkommen.