Frontiers in Psychology
Bindung ist ein tiefes und dauerhaftes emotionales Band, das eine Person über Zeit und Raum hinweg mit einer anderen verbindet (Bowlby, 1969; Ainsworth, 1973). Bowlby vertrat die Auffassung, dass die Beziehung der Kinder zu ihren Müttern für ihre soziale, emotionale und kognitive Entwicklung von großer Bedeutung ist. Insbesondere betonte er die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen der frühkindlichen Trennung von der Mutter und den damit verbundenen traumatischen Erfahrungen und späteren Anpassungsschwierigkeiten. Seine Bindungstheorie bietet einen Rahmen, der erklären kann, wie die Eltern-Kind-Beziehung entsteht und die spätere Entwicklung beeinflusst, indem sie zur Schlüsseldeterminante der sozial-emotionalen Anpassung und des kognitiven Wachstums des Kindes wird (Belski und Fearon, 2002; Bernier und Meins, 2008).
In den letzten 20 Jahren spielte die Bindungstheorie eine wichtige Rolle im Bereich der Beurteilung, der Interventionen und der Psychotherapie und bildete die Grundlage für ein breites Spektrum von Perspektiven und Praktiken. Einige dieser Perspektiven und Praktiken zeichnen sich durch ihre relevanten Konsequenzen und Auswirkungen aus, wie z. B. (1) die Rolle traumatischer oder vernachlässigender Bindungen zu frühen Bezugspersonen; (2) die Bedeutung der Bewertung des Bindungsmusters, der Bindungsabwehr und der Qualität der Affektregulierung des Patienten für die Planung sowohl von Einzeltherapien als auch von dyadischen/triadischen Interventionen, die darauf abzielen, die psychologische Entwicklung und das Wohlbefinden von Kindern und Erwachsenen zu fördern; (3) die Bedeutung einer engen, intensiven, emotionalen und beständigen therapeutischen Beziehung zum Patienten (Wallin, 2007). Die Arbeit im Rahmen der Bindungstheorie zielt letztlich darauf ab, in Interventionen oder in der psychotherapeutischen Behandlung eine Bindungserfahrung zu schaffen, „die zumindest bis zu einem gewissen Grad das ausgleicht, was der Klient beim ersten Mal versäumt hat“ (Wylie und Turner, 2011, S. 1). In den letzten Jahren wurde durch die Integration von Bindungs- und Neurowissenschaften unterstrichen, wie „die Kunst einer bestimmten spezialisierten Form von Beziehung und abgestimmter Verbindung den Menschen nicht nur hilft, sich besser zu fühlen, sondern auch die physische Funktion und Struktur ihrer Gehirne tiefgreifend verändert“ (Schore und Schore, 2008, 2010; Wylie und Turner, 2011, S. 17; Schore und Newton, 2012).
Das vorliegende E-Book ist eine interessante Sammlung von originellen theoretischen Modellen, empirischen Arbeiten in klinischen und nicht-klinischen Populationen und Einzelfallstudien, die die Notwendigkeit belegen, das psychologische Verständnis in den Rahmen der Bindungstheorie zu stellen. Alle Beiträge haben einige gemeinsame Themen: Erstens, die Bedeutung der Bewertung von Bindung, um das Wissen über die tiefe und innere Beziehungsfunktion, die emotionale Regulierung und die Anpassung des Patienten zu verbessern; zweitens, das Hauptziel ist immer, diese Bindungsbegriffe im Rahmen einer Multimethodenbewertung zu verwenden, die die inkrementelle Validität der Ergebnisse und Interpretationen stärken kann; und, nicht zuletzt, die Notwendigkeit, nicht nur globale Bindungsklassifizierungen (sicher, abweisend, besorgt und desorganisiert) zu berücksichtigen, sondern auch die impliziten Dimensionen, die zu einer solchen allgemeinen Klassifizierung führen, wie z.B. Gedankenkohärenz, Reflexionsfunktion, Nachweis einer sicheren Basis, Handlungsfähigkeit, Abwehrmechanismen: Alle diese Dimensionen können relevantere Informationen über die innere Welt des Patienten liefern. Da jedes Bindungsmuster auf einzigartige Weise auftritt, könnte ein tieferes Wissen über seine Funktionsweise Klinikern einen personalisierten Interpretationsschlüssel für jeden einzelnen Patienten liefern, der dabei hilft, eine synchronisierte und reaktionsfähige Verbindung herzustellen, um eine zweite Chance für den Aufbau einer sicheren Basis zu bieten (Wylie und Turner, 2011).
Das E-Book beginnt mit einem interessanten Artikel von Schore (2014), in dem der Autor ein interpersonelles neurobiologisches theoretisches Modell der frühen sozio-emotionalen Entwicklung sowohl für die typische als auch für die a-typische (autistische) Entwicklung von Kindern vorschlägt. Das Manuskript ist eine originelle Arbeit im Einklang mit Schores Beiträgen zur affektiven interaktiven Regulierung und den Neurowissenschaften und schlägt vor, wie die neuere Literatur über soziale und emotionale Funktionen der sich früh entwickelnden rechten Gehirnhälfte nicht nur die getrennten Welten von Bindung und Autismus überbrücken kann, sondern auch effektivere Modelle für Bindung und Autismus in der Frühförderung ermöglicht.
Eine Reihe von Originalstudien zur Mutter-Kind-Interaktion folgt: Diese Arbeiten konzentrieren sich auf die Erforschung der Auswirkungen der Mutter-Kind-Interaktion in Risikofamilien (De Falco et al., 2014), bei Müttern mit einem unbewältigten Trauma (Iyengar et al., 2014) und bei drogenabhängigen Müttern, die mit ihren Kindern in einer therapeutischen Gemeinschaft untergebracht waren (De Palo et al., 2014). Im Rahmen eines Multi-Methoden-Bewertungsrahmens liefern diese Arbeiten aufschlussreiche Hinweise sowohl auf Einschlusskriterien für Interventionsprogramme als auch auf die Behandlungsplanung zur Förderung der elterlichen Fähigkeiten in diesen spezifischen Mutter-Kind-Dyaden.
Zwei weitere Arbeiten stellen Originalforschung vor, die sich auf die Bewertung der Bindung bei Menschen mit Essstörungen oder Essstörungen konzentriert und das Adult Attachment Projective Picture System (George und West, 2012) verwendet. Delvecchio et al. (2014) beschreiben ein neues konzeptionelles Modell der Bindung, um die Rolle der defensiven Ausgrenzung bei der Entwicklung früher Beziehungen zu verstehen. Dieses Modell steht im Zusammenhang mit den späteren Symptomen der Anorexie. Mazzeschi et al. (2014) zeigten in ihrem Manuskript die Rolle des väterlichen und mütterlichen Bindungsstatus bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas im Kindesalter. In Übereinstimmung mit den vorangegangenen Beiträgen bieten auch diese beiden Beiträge aufschlussreiche Implikationen für die Prävention und die klinische Intervention.
Eine Reihe wirklich interessanter klinischer Fallstudien, die zumeist auf der Verwendung des Adult Attachment Projective Picture System sowie anderer validierter und leistungsfähiger Instrumente beruhen, folgen diesem Abschnitt und schlagen wichtige bindungsbasierte Empfehlungen für die Intervention vor. Zunächst zeigt das Manuskript von George und Buchheim (2014) die Vorteile der Verwendung des AAP für die Beurteilung eines traumatisierten Patienten in einer stationären Einrichtung auf. Sie stellen eine Fallstudie vor, um diejenigen AAP-Komponenten zu veranschaulichen, die für eine psychodynamische Konzeptualisierung besonders relevant sind. Pazzagli et al. (2014) stellen einen Fall mit einem hohen Maß an elterlichen Konflikten vor, bei dem das AAP und der Circle of Security Parenting (COS-P) zum Einsatz kommen; die Autoren bieten spezifische klinische und kontextuelle Hinweise für die Anwendung des COS-P. In der Arbeit von Salcuni et al. (2014) wurde eine klinische Batterie bestehend aus AAP, Symptom Check List 90 Revised (SCL-90-R) und Shedler-Westen Assessment Procedure (SWAP-200) in der Vor- und Nachbeurteilungsphase der Psychotherapie eines jungen erwachsenen Patienten mit Panikstörung eingesetzt; die Autoren erläuterten die Gründe, warum sie einen Ansatz innerhalb eines psychodynamischen Rahmens mit besonderem Augenmerk auf eine „bindungstheoretische Haltung“ als die Behandlung der Wahl für diesen Patienten wählten. Eine originelle Interpretation der Veränderung in der Psychotherapie unter Verwendung des Psychodynamischen Diagnosehandbuchs (PDM) war ebenfalls enthalten.
Abschließend beleuchtet ein Meinungsbeitrag von Pace (2014) die klinischen und Forschungsperspektiven des Friend and Family Interview (FFI; Steele und Steele, 2005; Steele et al. unveröffentlichtes Manuskript), einer neuartigen Methode, die zur Beurteilung der IWM junger Menschen entwickelt wurde und häufig bei adoptierten Stichproben eingesetzt wird, und weist auf die Notwendigkeit hin, nicht nur die globalen Bindungsklassifikationen (sicher, abweisend, besorgt und desorganisiert) zu berücksichtigen, sondern auch andere wichtige FFI-Dimensionen (Kohärenz, reflektierende Funktion, Nachweis einer sicheren Basis usw.), die relevante Informationen über die Bindungsfähigkeit von Kindern liefern könnten.), die relevantere Informationen über die innere Welt der Adoptierten liefern könnten.
Erklärung zu Interessenkonflikten
Der Autor erklärt, dass die Forschung in Abwesenheit jeglicher kommerzieller oder finanzieller Beziehungen durchgeführt wurde, die als potenzieller Interessenkonflikt ausgelegt werden könnten.
Danksagungen
Am Ende dieses Editorials möchte ich den Mitarbeitern von Frontiers und Dr. Castelnuovo für die Gelegenheit danken, die sie mir gegeben haben. Ein besonderer Dank geht an alle Autoren, die sich bereit erklärt haben, mit ihren Originalbeiträgen an diesem Thema mitzuwirken, und an alle Gutachter, die mit ihren rechtzeitigen Kommentaren die Qualität der Forschung und der Manuskripte gefördert haben. Schließlich geht ein ganz besonderer Dank an Dr. Diana Miconi und Dr. Gea Calcagno für ihre wertvolle Arbeit und ihre freundliche und professionelle Mitarbeit an der vorliegenden Sonderausgabe über Bindung.
Ainsworth, M. D. S. (1973). „The development of infant-mother attachment“, in Review of Child Development Research, eds B. Cardwell and H. Ricciuti (Chicago, IL: University of Chicago Press), 1-94.
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