Xenomelie: Profil eines Mannes mit dem dringenden Wunsch, ein gesundes Glied zu amputieren
Xenomelie, was wörtlich übersetzt „fremdes Glied“ bedeutet, ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, bei der nicht psychotische Personen eine intensive, anhaltende Überzeugung haben, dass eines oder mehrere ihrer Gliedmaßen nicht zu ihrem Körper gehören; stattdessen betrachten sie es als ein fremdes Anhängsel, das abgelegt werden sollte.1 Diese unerschütterliche, fixe Überzeugung ähnelt einer Wahnvorstellung und ist oft so schwächend, dass die Betroffenen die Amputation des unerwünschten Gliedes dringend wünschen. Traditionell werden solche Wünsche von der medizinischen Gemeinschaft oft abgelehnt, was dazu führen kann, dass eine Person mit Xenomelie einen riskanten Selbstamputationsversuch unternimmt oder die Gliedmaße in einer Weise verletzt, die eine spätere Amputation medizinisch notwendig macht.1
Der Name für diesen Zustand hat sich im Laufe der Jahre entwickelt, je nachdem, welche Betonung auf bestimmte Merkmale gelegt wird. Früher nannte man es Apotemnophilie, was so viel wie „Liebe zur Amputation“ bedeutet, da man davon ausging, dass es sich um einen Fetisch handelt, der sexuelle Befriedigung aus dem Amputiertsein zieht.2,3 Der Begriff „Körperintegritätsstörung“ (BIID) wurde einige Jahrzehnte später eingeführt, um die Erkrankung in ein breiteres Spektrum anerkannter psychiatrischer Pathologien einzugliedern, mit der Begründung, dass es sich um eine Diskrepanz zwischen objektivem und subjektivem Körperschema handelt, ähnlich wie bei der Anorexia nervosa oder der Körperdysmorphen Störung.4,5 Dieser Name diente auch dazu, Parallelen zwischen dieser Erkrankung und der Geschlechtsidentitätsstörung zu ziehen. Im Gegensatz zu diesen anderen Störungen verfügen die Betroffenen jedoch über eine ausreichende faktische Einsicht, um zu wissen, dass sie für andere „normal“ erscheinen. Der neueste Begriff, Xenomelie, wurde eingeführt, um die neurologische Komponente der Erkrankung anzuerkennen, nachdem bildgebende Untersuchungen strukturelle Veränderungen des rechten Scheitellappens bei Personen gezeigt hatten, die eine Amputation der linken unteren Gliedmaße wünschten, und damit den Teil des Gehirns, der den sensorischen Input der betroffenen Gliedmaße verarbeitet, in Verbindung brachten.6
Während bestimmte Nuancen in der Symptomatik bei der Formulierung dieser älteren Namen geändert wurden, sind bestimmte charakteristische Merkmale der Xenomelie gleich geblieben.7 Die Erkrankung beginnt in der frühen Kindheit, vor der Pubertät. Die Betroffenen leiden sehr stark und haben sich mit der Vorstellung abgefunden, dass nichts anderes als eine Amputation ihre Not lindern kann. Xenomelie tritt bei Männern deutlich häufiger auf als bei Frauen. Sie geht einher mit einer ungewohnten Einstellung gegenüber Behinderungen, einschließlich der Bewunderung für Amputierte und der völligen Gleichgültigkeit und Missachtung der Beeinträchtigung, die eine Amputation verursachen würde.
Die Datenlage ist zwar unzureichend, um eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen, aber die Tendenz in der veröffentlichten Literatur deutet darauf hin, dass bei Xenomelien überwiegend der linke Unterschenkel die betroffene Extremität ist, und zwar bei Rechtshändern.1
Hier beschreiben wir den Fall eines jungen Mannes, Herrn H., mit Xenomelie, der sich an uns wandte, nachdem er in einer kürzlich von uns veröffentlichten Übersichtsarbeit über diese Erkrankung gelesen hatte.1 Er stimmte zu, dass wir seine Geschichte und Symptome anonym beschreiben, damit Kliniker andere Personen mit Xenomelie erkennen und ihnen helfen können. Seine Geschichte kann auch dazu beitragen, die Erforschung ätiologischer Faktoren und neuer Behandlungsstrategien für Xenomelie anzuregen, die über die Amputation einer gesunden Gliedmaße hinausgehen.
‚Ich habe diese Gliedmaße, die nicht sein sollte‘
Herr H., 31 Jahre alt, ist ein weißer Mann osteuropäischer Abstammung, der in einem großen Ballungsgebiet im Westen der USA geboren und aufgewachsen ist und dort wohnt. Er ist verheiratet, hat eine Hochschulausbildung und arbeitet derzeit als Computerprogrammierer für ein bekanntes Technologieunternehmen. Während unseres Telefongesprächs zeigt er eine überdurchschnittliche Intelligenz, scheint in euthymer Stimmung zu sein und spricht mit viel Gefühl. Herr H. zeigt keine psychotischen Symptome wie offenkundige Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Realitätsverzerrungen oder Reaktionen auf innere Reize. Zu seiner psychiatrischen Vorgeschichte gehört eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die im Alter von 6 Jahren diagnostiziert und bis zum Alter von 18 Jahren von einem Psychiater mit entsprechenden Medikamenten behandelt wurde, als Herr H. beschloss, die Behandlung abzubrechen. Er bekennt sich nicht mehr zu den Symptomen von ADHS. Er leidet an keinen chronischen Krankheiten, abgesehen von jahreszeitlich bedingten Allergien, gegen die er manchmal Antihistaminika einnimmt, und gelegentlichen Ischiasbeschwerden, gegen die er rezeptfreie nichtsteroidale Entzündungshemmer einnimmt. Herr H. leidet auch unter episodischer Schlaflosigkeit, die er auf beruflichen Stress und ungerade Arbeitszeiten zurückführt. Als Säugling wurde er wegen einer Meningitis behandelt, und als Kleinkind unterzog er sich einer beidseitigen Myringotomie zur Behandlung wiederkehrender Ohrinfektionen. Er hat keine andere chirurgische Vorgeschichte. Er wuchs in einem christlichen Haushalt der Mittelschicht auf, in dem beide Elternteile noch leben, noch zusammen sind und keine nennenswerte psychiatrische oder medizinische Vorgeschichte haben. Er hat keine Geschwister.
Obwohl er ein scheinbar normales Leben führt, leidet Herr H. still und heimlich an Xenomelie. Ihm zufolge gab es nie eine Zeit in seinem Leben, in der er nicht das Gefühl hatte, dass sein linkes Bein „zu lang“ war und er „auf einer Stelze ging“. Er sagt: „Es fordert täglich seinen Tribut für meine Gesundheit und mein Wohlbefinden.“ Er kann sich noch gut daran erinnern, wie er als 4-Jähriger Spiele spielte, bei denen er so tat, als würde er sein linkes Bein verletzen. Er sagt: „Wenn wir ‚make believe‘ spielten, endete das Spiel immer damit, dass etwas ‚passierte'“. Er liebt Outdoor-Sportarten wie Snowboarding und Mountainbiking, und obwohl er selbstverletzendes Verhalten abstreitet, sagt er, dass er im Falle eines Unfalls am liebsten auf seinem linken Bein landen würde, weil es der Teil seines Körpers ist, den er als am entbehrlichsten“ betrachtet. Eine seiner lebhaftesten Kindheitserinnerungen ist, dass er mit seinen Eltern einkaufen ging und auf dem Parkplatz vor dem Eingang einen älteren Mann mit nur einem Bein auf Krücken stehen sah. Er erinnert sich, dass er „eifersüchtig“ auf diesen Mann war.
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